Re: Gluten, der Feind in deinem Brot
von tomkyle » Fr 16. Apr 2021, 15:54
Habt Dank für den TV-Tipp. Das war eine überaus spannende Doku, dir mich sehr zum Nachdenken angeregt hat. Denn ich sehe diese Doku als eine Art trojanisches Pferd, auch wenn ich den thematischen Rundumschlag als Gedanken-Stichwortgeber hilfreich fand. Wenn ich die Sendung mal kurz mit dem Florett nachzeichnen darf?
Exposition: Unterlegt mit hektischer Musik begutachten etwas ferngesteuert und hypnotisiert wirkende Besucher einer Lebensmittel-Messe völlig abgedrehte Gesundheits-Lebensmittel. Eingeblendete Buch-Autoren raten dem Leser dazu, Gluten zwar nicht zu verteufeln, aber doch besser zu vermeiden und für sich auch mal in Erwägung zu ziehen, ob man nicht auch betroffen sein könnte.
Hypothese 1: Gluten vergiftet uns alle! Dazu die Sprecherin: „...von einem neuen Feind bedroht…“ … „schleichende Pandemie…“
Experte 1: „Also, im Korn liegen Gliadine und Glutenine in Einzelteilen vor. Gluten entsteht also erst, wenn man Mehl mit Wasser mischt.“ Oh, das wusste ich nicht.
Experte 2: „An Zöliakie leiden 2,5% der Menschen“. Und dann sinngemäß: Es gibt aber noch den kleinen Bruder, NZGS. Das ist sehr ähnlich wie Zöliakie, aber nicht so schlimm, aber es leiden viel mehr Menschen dran. Man weiß aber nicht, was der Auslöser ist. Dennoch hat die Zahl der Betroffenen zwischen 2012 und 2015 um 250% zugelegt. Erschreckend! Und dann, dass Gluten gar nicht in der Pflanze vorkommt! Indessen die Sprecherin aus dem Off: „Ist Gluten ein von der Pflanze produziertes Gift, um das Raubtier Mensch zu töten?“ Also Versuch einer neuen Hypothese:
Hypothese 2: Kann es sein, dass im modernen Weizen mehr Gluten ist als früher?
Dann ein Exkurs: Die Geburtsstunde des „modernen Weizens“, vor fast 60 Jahren. Früher waren die Halme nämlich länger. Dann musste der Weizen kürzergezüchtet werden, weil die Rüstungsindustrie der Kriegsteilnehmerstaaten ihre Bomben-Nitrate und Bomben-Phospate als Dünger umdeklariert loswerden wollten, aber die Halme unter der Last zusammenbrachen und zu allem Überfluss nicht auf den Dünger ansprachen… Entschuldigung, aber diese Story kauf ich nicht, zu hanebüchen.
Jedenfalls begann demnach die Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion und das Übel nimmt also seinen Lauf. – Sehr interessantes und bedenkenswertes Sanduhr-Modell mit der Engstelle in der Wertschöpfungskette.
Exkurs: Pflanzenschutzmittel, Herbizide – und der bekannteste Vertreter: Glyphosat. Schockierende Bilder aus dem Folklore-Koffer: Ein Mensch in Vollschutzanzug, der einen Rhododendron gründlich von oben bis unten einnässt. Bin nicht sicher, dass Bauern so mit Land und Pflanzen umgehen ... Aber der Vollschutzanzug, das macht natürlich mächtig Eindruck. Immer wieder Trecker und Hubschrauber mit meterweit spritzenden Düsen. Gylphosat vergiftet ALLES! Jedenfalls „leiden“ laut Sprecherin heute auch aufgrunddessen 2,5 Milliarden Menschen an „Mikronährstoff-Mangel“. Leute, die leiden nicht an Mikronährstoff-Mangel, sondern an Nahrungsmangel.
Schlimm: man kann Glyphosatz-Rückstände messen! Im Getreide sogar mehr als in Gemüse! Und sogar in Bier! Hier hat mir ein wenig ausgewogene Einordnung bei der Gefahreneinschätzung gefehlt, als Ergänzung zu der sehr ausführlich dargelegten Anti-Haltung.
Aber darum gings gar nicht, denn Glyphosat war nämlich das heimliche Thema der Sendung. Und natürlich als Heilsversprechen die Weltrettung durch den Bio-Landbau. Je älter die Sorten, desto BESSER das Getreide. Je „entschleunigter“ die Anbaumethode, desto BESSER für UNS ALLE! Große Firmen machen Raubtierkapitalismus. Grundsätzlich! Sie beeinflussen sogar Regierungen, wenn es um Regeln oder Gesetzgebung geht. Ja mein Gott, und das machen Umwelt-Aktivisten nicht? Und zur Notwehr schließen sich Bio-Erzeuger regional zusammen. Damit der David gegen Goliath ein bisschen größer wird. Herrlich rührend!
Ungeklärt bleibt, warum sich in vier Jahren die Fälle bei Menschen mit Zöliakie oder NZGS vermehrfacht haben. Selbstverständlich „leiden“ sie daran, wie mehrfach betont wird. Expertin 3 beobachtet Parallelen zwischen Glyphosat-Anwendung und NZGS-Anstieg und vermutet einen Zusammenhang – den die Sendung dadurch behauptet, dass sie mindestens drei weiteren möglichen Gründen nicht auf den Grund geht, nämlich:
Kann das Folge eines gesellschaftlichen Trends sein? Wir sehen eine allgemeine Hinwendung zur Natur, seit 10, 15 Jahren sind Produkte mit Öko-Touch der Renner, mit naturnahen Farben und Haptiken. „Nachhaltig“, „gesund“ und „bewusster“ leben, als Ausgleich zum „hektischen westlichen Lebensstil“. Könnte nicht auch ein Teil dieses Trends sein, dass mehr Menschen „in sich hineinhorchen?“ Und bei gründlicher Selbst-Beobachtung auch öfter zum Arzt rennen? Manche – wie die Dame am Anfang der Doku – sogar zu fünf Ärzten, und einer sagte: Sie haben NZGS …
Korrekliert die NZGS-Zunahme womöglich mit dem Marktgeschehen? Der Gesundheitslifestyle-Branche expandiert und wittert bei steigendem Wohlstand in den westlichen Ländern auch wachsende Verdienstmöglichkeiten. Kann es sein, dass mit entsprechender Marketing-Medien-Penetration der Natürlich-und-gesund-Trend verstärkt wird?
Lassen sich gesundheitliche Gluten-Probleme vermeiden, wenn man konventiell erzeugte Lebensmittel („Industrie“-Mehl) schonend verarbeitet? Schließlich bildet sich Gluten ja bei der Teigherstellung, und das Klebernetzwerk ist stärker als früher. Ist also die Lebensmittelzubereitung zu hastig? Nur dann wären weder Glyphosat noch Weizen schuld an der Misere.
Ende meine Wiedergabe *florettwegsteck*. In der Tonality fand ich die Doku zu dramatisierend und panikheischend. Im Diskurs zu einseitig. Die lange Kurve zum Glyphosat hätt nicht notgetan, so hat den Beigeschmack von versteckter Propaganda.
Beste Grüße
Carsten.
Gott grüß die Kunst!